Aus Perspektive des Salzburger Ärzteforums erleben wir angesichts der heutigen Abstimmung im EU-Parlament auf europäischer Ebene neuerlich das Resultat einer seit längerem breit um sich greifenden, ideologisch bedingten Verblendung, die zu einer konsequenten Realitätsverkennung bzw. -verweigerung geführt hat, jedoch keinem Faktencheck standhält.
Am 11.04.2024 hat das Europäische Parlament über die Aufnahme eines sogenannten „Rechts auf Abtreibung“ in die EU-Charta der Grundrechte abgestimmt: 336 Abgeordnete stimmten dafür, 163 dagegen und 39 enthielten sich. Einen Monat zuvor verankerte der französische Präsident Macron die „Freiheit auf Abtreibung“ (fälschlicherweise konsequent in den Medien und auch im zur Abstimmung vorgelegtem Text als „Recht auf Abtreibung“ bezeichnet) in der französischen Verfassung.
Wie ist aus Perspektive des Salzburger Ärzteforums dieses Ergebnis zu werten, welche Tragweite hat es und welche Konsequenzen zieht es nach sich?
Aus unserer Sicht erleben wir hier auf europäischer Ebene das Resultat einer seit längerem breit um sich greifenden, ideologisch bedingten Verblendung, die zu einer konsequenten Realitätsverkennung bzw. -verweigerung geführt hat, jedoch keinem Faktencheck standhält.
Denn: Unbestrittene Realität ist – und diese gilt es unabhängig von politischem, ideologischem oder religiösem Standpunkt anzuerkennen –, dass im Rahmen eines Schwangerschaftskonfliktes zwei reale Rechte einander gegenüberstehen und konkurrierend aufeinanderprallen können: Einerseits jenes auf Selbstbestimmung jeder Frau über ihr Leben und ihren Körper und andererseits jenes jedes Menschen auf Leben.
Die sich daraus ergebende Spannung kann nicht negiert werden – es gilt sie gesellschaftlich trotz verschiedener Positionen ohne Schuldzuweisungen und mit gegenseitigem Respekt auszuhalten und sachlich nach Lösungen zu ringen, die auch das Überleben des Kindes als eine reelle Option einschließen.
Die österreichische Fristenregelung (und analoge Gesetze in anderen EU-Mitgliedsstaaten) – ist insofern eine ehrliche Gesetzgebung, da sie oben genannter Realität Rechnung trägt: Das Leben des Ungeborenen wird grundsätzlich als schützenswertes Gut des sich entwickelnden Menschen wahrgenommen und aus diesem Grund die vorgeburtliche Tötung ebenso grundsätzlich verboten. Unter Anerkennung der Realität von Schwangerschaftskonfliktsituationen werden Ausnahmebedingungen definiert, unter denen der Gesetzgeber eine Abwägung zwischen Selbstbestimmungsrecht und Lebensrecht zulässt und einen Schwangerschaftsabbruch straffrei stellt. (Dass die eugenische Indikation eine Diskriminierung behinderter Menschen darstellt, muss hier jedoch neuerlich erwähnt werden.)
Angesichts der Tatsache, dass bei jeder Abtreibung ein Menschenleben ausgelöscht wird, gesteht der Gesetzgeber ärztlichem und pflegerischem Personal sowie auch Institutionen im Gesundheitswesen zu, aus Gewissensgründen eine aktive Teilnahme bzw. Durchführung abzulehnen.
Mit einer Einführung eines „Rechtes auf Abtreibung“ und in weiterer Folge der Streichung des Tatbestandes der Abtreibung aus den Strafgesetzbüchern der EU-Mitgliedsstaaten, will man nun den Schwangerschaftskonflikt selbst mit einer gesetzlichen Regelung a priori als nicht mehr existent erklären und abschaffen: Aus rein feministisch argumentiertem Prinzip heraus wird das Selbstbestimmungsrecht der Frau als absolut und uneingeschränkt erhöht, das Lebensrecht des Embryos bzw. Fetus als sich entwickelnder, noch unreifer und ungeborener Mensch zwar nicht explizit abgeschafft aber mit keinem Wort mehr erwähnt und so defacto in einem Ausmaß relativiert, dass davon nichts mehr übrig bleibt. Woraus soll sich ein Konflikt künftig noch ergeben, wenn ein Embryo und Fetus durch eine „entkriminalisierende Gesetzgebung“ kein grundsätzlich schützenswertes menschliches Leben mehr hat und somit einzig das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht der Frau in selber Weise über ihren schwangeren wie nicht schwangeren Körper gilt?
Zu dieser Doktrin soll offenbar kein Widerspruch mehr geduldet werden: denn im zur Abstimmung vorgelegten Text wurde gleichermaßen die Beendigung der EU-Finanzierung für sog. Anti-Choice-Gruppen, eine entsprechend angepasste Sexual- und Beziehungserziehung für alle, die Abschaffung der Gewissensklausel sowohl für Ärzte / Pflege als auch Institutionen im Gesundheitswesen sowie die Aufnahme von Abtreibungsmethoden und -verfahren als verpflichtende Lehrinhalte im Medizinstudium gefordert. Ärztinnen und Ärzte werden dies jedoch sicher nicht ohne massiven Widerstand hinnehmen können.
Wichtig erscheint es uns jedoch, das Ergebnis der heutigen Abstimmung differenziert auf dem Boden der Realität einzuordnen: Die Gesundheitsversorgung, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit fällt ausschließlich in die Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten. Weiters ist für eine Änderung der EU-Grundrechtecharta mit Einschluss eines „Rechtes“ auf Abtreibungen die einstimmige Zustimmung aller Mitgliedstaaten erforderlich. Davon sind wir hoffentlich (noch) weit entfernt.